Worüber man nicht mehr spricht, ist nicht mehr da
Drei Tage nach einer lehrreichen Konversation am Tresen des Vereinsheims trafen sich Rising Reißig (Arzt, Sportkletterführer) und Timm Völker (Patient, Musiker) um sich über den Inhalt selbiger Unterhaltung zu unterhalten. Beide befinden sich zum Zeitpunkt des Gesprächs schon seit mehreren Wochen in den Fängen einer Atemwegserkrankung unbekannter Provenienz, weshalb das Gespräch durch häufiges trockenes Husten unterbrochen wird. Trotz allem werden sie, ihrer selbstauferlegten Doktrin folgend, versuchen am Thema der Ausgabe dran zu bleiben und eisernen Widerstand gegen den inneren Drang Phantasmagorien zu bilden ankämpfen. Ob sie diesen Kampf gegen sich selbst bestehen, entnehmen Sie bitte dem folgenden Gesprächsausschnitt.
Ein Raum, ein kleiner runder Tisch mit einem Versace-Tuch als Tischdecke, zwei helle Holzstühle. Rising Reißig sitzt auf einem und wischt auf seinem Telefon herum. Timm Völker betritt „Runnin’ with the Devil“ singend den Raum.
Rising Reißig (RR): Eine Präambel ist eine feierliche Erklärung. So ein Quatsch.
Timm Völker (TV): Setzt sich auf den freien Stuhl. Reißig und Völker müssen reden. Nummer 17 glaube ich.
RR: Du mit deinem Nummerngedöns, da blickt doch keiner mehr durch. 17, 19, erotisch, 21, guten Tag.
TV: Steht auf und hantiert an einer Gerätschaft. Jetzt weiß ich auch, warum das die ganze Zeit so komisch klingt. Weil das noch an ist. Er schaltet „das“, was noch an ist, aus.
RR: Wie jetzt und jetzt, achso wegen, ah alles klar.
TV: Jetzt ist wieder alles normal.
RR: Ach, weil wir uns so komisch gehört haben.
TV: Vor allem habe ich dich gehört. Mit deinem sonoren kehligen Organ erotisch säuselnd.
RR: Ja.
TV: Das Thema ist „Sprachlosigkeit / Ohne Worte“.
RR: Aber wir reden trotzdem, bitte. Ich habe keine Lust, jetzt hier eine Stunde rum zu sitzen und nichts zu sagen.
TV: Ja, das denke ich auch. Es ist auch etwas kalt, merke ich gerade. Ich mache mal den Ofen an.
RR: Ja bitte, kannst du mal das Kulturzimmer heizen, das KZ heizen.
TV: Womit wir auch schon sehr nah an dem dran sind, womit ich unser Gespräch beginnen wollte. Er holt einen auf A6 gefalteten A4 Zettel hervor auf dem sich Notizen befinden und kratzt sich am rechten Unterschenkel.
RR: Na, erzähl doch mal.
TV: Ich wollte beginnen mit dem guten alten Konflikt, der seit ein paar Monaten in mir gärt. Als wir im letzten Jahr im Oktober unsere Show bei Radio Lindenow hatten, habe ich feierlich verkündet, keine Nazi-Witze oder mit dem dritten Reich kokettierende Sprachwendungen mehr zu verwenden.
RR: Warum hast du das eigentlich getan?
TV: Ich glaube, das stand in Zusammenhang mit dem Attentat auf eine Synagoge in Halle (Saale) zum Jom Kippur Fest. Und ich entschied für mich, dass die Situation zu ernst ist, als dass ich noch Witze machen könne.
RR: Hm.
TV: Du kannst jetzt natürlich sagen, dass das ein Widerspruch ist, denn je ernster eine Situation, je wichtiger sind Witze.
RR: Mh-mh-mh.
TV: Das hätte ich jetzt aber von dir erwartet.
RR: Ah-Ah-Ah, ich höre dir einfach zu.
TV: Stimmt. Sprachlosigkeit, ohne Worte. Daher kam das jedenfalls. Menschen, die unsere Gesprächsreihe schon länger verfolgen, werden festgestellt haben – und interessanterweise hat sich darüber noch niemand empört, weil sie uns für Narren halten und wir diese Freiheit genießen – dass wir des öfteren in einen Jargon verfallen, in dem Worte wie Führer, Sturmbannführer oder Endsieg auftauchen.
RR: Sportkletterführer nicht zu vergessen.
TV: Was ist das?
RR: Als ich mit einem Freund mal auf Sardinien klettern war, trafen wir einen Italiener in so einem kleinen Laden und der konnte auch sehr gut deutsch. Und als er mitbekam, dass dieses kleine Heft, wo die Kletterrouten drin sind, auf deutsch „Sportkletterführer“ heißt, ist er zusammengebrochen vor lachen.
TV: Für ihn war das also witzig.
RR: Total.
TV: Es ist ja nicht so, dass ich diese Sprache jetzt nicht mehr witzig finde. Sondern eher wie mit allem, das ich mir selbst verbiete. Erst wenn es verboten ist, stelle ich fest wie oft im Alltag…
RR: …wie wichtig das für dein Leben ist
TV: Das auch, aber vor allem, dass es im Alltag ständig Steilvorlagen gibt, um jetzt so einen Witz zu bringen. Schon in dieser Talkshow damals, kurz nachdem ich meine Abstinenz verkündigte, gab es mindestens 5 Momente. Aber ich habe geschwiegen und bin sprachlos geblieben.
RR: Oh je.
TV: Es war dann aber so, dass immer, wenn ich schwieg, die Leute ahnten, hier hätte jetzt ein Naziwitz fallen können. Meine Frage an dich ist: Wie hältst du es mit dem Nazi-Witz in Zeiten zugespitzter Zustände?
RR: Naja, es ist ja schwierig, wenn Sachen ernster werden. Wenn ich Harndrang habe, wird der ja nicht weniger dringend, wenn ich Witze drüber mache. Was meinst du jetzt damit, dass Sachen ernster werden? Weil jemand mit einem selbstgebauten Gewehr auf eine Tür in Halle geschossen hat? Ist dadurch irgendetwas ernster geworden als vorher? Was ist denn ernster geworden? Meine Kritik ist, dass in Deutschland der Antifaschismus zu wenig auf den Punkt gebracht ist. Das ist so unsauber und verwaschen. Aber ich gebe zu, diese Kritik kann daher rühren, dass ich aus einer kleinen schmutzigen Welt am Rande der Galaxis komme, wo ständig über sowas geredet wurde.
TV: Was genau ist dir zu wenig auf den Punkt gebracht?
RR: Ich hatte schon einmal erzählt, dass ich in den 90er Jahren auf den Flohmärkten beobachtete, dass die Militariahändler mit kleinen Papierstreifen die Hakenkreuze auf den Stahlhelmen abgeklebt haben. So, als ob das Abkleben des Symbols dafür sorgt, dass es das Dritte Reich nie gegeben hätte. Wenn etwas da ist oder da war, ob man nun drüber redet oder nicht, es ist ja trotzdem da gewesen. Und da sollte man sich eher fragen, warum ist es denn da?
TV: Es gibt ja auch Leute, die meinen, wenn man nicht mehr darüber redet, ist es nicht mehr da. Schweigen als Löschmittel. Ist es so oder ist es nicht so?
RR: Natürlich ist es nicht so. Das ist totaler Quatsch. Dann könnte ich ja auch sagen, die Autobahn existiert nicht und mit verbundenen Augen über selbige laufen. Wahrscheinlich bin ich zu naturwissenschaftlich ausgebildet, aber ich kann mit solchen Theorien nichts anfangen.
TV: Das, was ich meine, bezieht sich auf Victor Klemperers Buch Lingua Teritia Impe…
RR: Tertii Imperii… Sprache des Dritten Reiches.
TV: Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber eine uns beiden wohlgesonnene Vereinsheimsbesucherin erzählte uns doch vorgestern, dass Victor Klemperer meint, Kulturen und Gesellschaften haben Sprachstrukturen und wenn ich ihre Ausführungen richtig verstanden habe, kann das Dritte Reich nur überwunden werden, wenn man seinen Sprachrhythmus aus der Gesellschaft heraustreibt.
RR: Das ist doch mal ‘ne gute Idee.
TV: Daraus ergab sich dann im Gespräch mit der Besucherin für mich die Zuspitzung: Worüber man nicht mehr spricht, ist nicht mehr da.
RR: Natürlich ist es dann nicht mehr da. Aber da sind wir wieder zwanglos bei der Frage: Wie ist es denn überhaupt hier hergekommen? Waren Hitler, Gauland und Göbbels drei mit einem Raumschiff gestrandete Linguisten, die in Deutschland gelandet sind und unsere Vorfahren unter ihren Sprachduktus gezwungen haben? Ist deswegen diese ganze Situation entstanden? Denn laut jener Theorie scheint es ja so zu sein, dass wenn man nicht mehr drüber spricht, es nicht mehr da ist. Also im Umkehrschluss auch: wenn man drüber spricht ist es da. Aber das Dritte Reich als linguistisches Problem ist mir neu. Lacht. Herr Völker schweigt sich aus…
TV: Ja, also ich…
RR: Mir kommt das auf jeden Fall sehr religiös vor. Denn eins der Gebote ist: „Du sollst dir kein Bild machen.“ Du darfst Gott nicht ansehen und wahrscheinlich auch nicht über ihn reden. Denn Gott ist Gott… ein in der Tonhöhe variierendes Echo des Wortes Gott hallt durch den Raum, erzeugt durch eine Maschine an der TV nestelt. Mit dieser kleinen Einlage wolltest du wohl zeigen, dass auch hier Gott mit uns ist. Das stand ja schon auf… nee, das sage ich jetzt nicht. Jedenfalls lebte ich in einem kleinen schmutzigen Proletenland, wo alle, der Sprache unmächtig, lallend im schlimmsten Dialekt oftmals betrunken, rumgemosert haben über alles was verdächtig war, intellektuell zu sein. Unter anderem auch Sprache. Daher kommt vielleicht meine Aversion gegen Sprachverbote. Man soll ja nicht ficken und kacken sagen und darüber reden. Aber die DDR war ein bisschen so. Man sollte ficken, kacken und in der Nase bohren und drüber reden. Denn es gab einen Aufstand gegen die Hegemonie der Sprache der Gebildeten. Und uns wurde ständig eingetrichtert, dass das Verbot, etwas zu sagen, das Selbe ist, wie das Verbot, etwas zu denken. Und wenn ich nicht mehr denke, kann ich nicht mehr handeln. So war das. Und die haben natürlich diesen religiösen Kram da mit reingezogen, „Opium fürs Volk“ und so. (Anm. des Transkriptors.: gemeint ist Karl Marx‘ geflügeltes Wort „Opium fürs Volk“, dass die Religion als Beruhigungs- und damit Kontrollmittel für den Volkskörper in allen nicht kommunistischen Gesellschaften entlarvt.) Und als Referenz haben sie die vorreligiösen Menschen herangezogen und die Geschichte des Turmbaus zu Babel.
TV: Rastafari… Babylon Burn… Lange Echofahnen… fahre fort.
RR: Babbelbabbelbabbel… Die Leute damals hatten alle eine Sprache und verstanden sich prächtig. Und dann beschlossen sie einen Turm Richtung Gott zu bauen. Warum genau, ist nicht klar. Wahrscheinlich wollten sie ihn beschießen. Er bekam es mit und kriegte schlechte Laune. Und da Gott ein Schlaumeier ist, kippte er nicht etwas den Turm um, sondern gab den Menschen verschiedene Sprachen. Und seit dem verstehen sie sich nicht mehr und bekriegen sich.
TV: Ich bin schwer beeindruckt von deinem Wissen.
RR: Nein, das steht in der Bibel.
TV: Ich hab die Bibel leider noch nicht gelesen.
RR: Na, ich doch auch nicht.
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