Raum der Stille

Von Sven Glatzmaier

Anfang vergangener Woche ergab es sich, dass ich dem Waldklinikum in Gera überraschend einen Krankenbesuch abstattete.
Die Großmutter meines Herzblattes erlitt wenige Tage vorher einen Schlaganfall.
Ich kenne die Omama & mag sie & es stellte sich als sinnvoll heraus, dahin mitzufahren & im besten Falle ein wenig Power dortzulassen.


So traf ich mich mit meiner Lieben am Busbahnhof, wir machten noch ein paar Besorgungen & stiegen in den Zug nach Gera. Die Fahrt dauerte ca. 1 Stunde.
Wir hatten uns zu dem Zeitpunkt einige Tage nicht mehr gesehen & wollten die Fahrt zum Reden, Quatschen, Austauschen nutzen. Tatsächlich sprachen wir gar nicht viel, sondern lagen uns einfach in den Armen, waren ruhig & a bissl angespannt (des anstehenden Krankenbesuchs wegen).
Das Klinikum ist riesig. Wir suchten das entsprechende Haus, fragten uns durch, ich setzte meine Begleitung vor der Station ab & wir verabschiedeten uns.
Mit der Absprache, doch dazu zu kommen, wenn die Großmutter das möchte.
Schon auf dem Weg zur Station fiel mir ein Raum auf, dessen Bezeichnung draussen an einem Schild angebracht war. Der “Raum der Stille”- die Kapelle des Klinikums.
Da wollte ich später unbedingt hin.
So schlenderte ich wortlos durch das Gebäude.
Die Gänge des Klinikums waren (zumindest für einen Ort der Kranken) freundlich & lichtdurchflutet gestaltet, ausladend in seiner schieren Größe, es wurde sehr viel Wert auf Kunst gelegt (es bezeichnet sich selbst als “Kulturkrankenhaus”). Starke Wandreliefs von mehr oder minder berühmten Persönlichkeiten sind dort zu sehen, ein Flügel steht da, es finden wöchentliche kulturelle Veranstaltungen statt.
Ich ging also in die Cafeteria & bestellte mir einen Kaffee. Es war ein sonniger Tag. Auch die Cafeteria war hell & freundlich. Ich beobachtete die Menschen dort, also die Kranken, die Leidenden & deren Besucher. Zumeist waren es Paare.
Dann stellte ich plötzlich eben diese ungewohnte Ruhe fest: die meisten der Menschen, welche sich da gegenübersaßen waren ruhig!Aus unterschiedlichen Gründen natürlich. Aber was sie irgendwie zu einen schien, war eine gewisse Friedlichkeit. Die Menschen verziehen einander, trösteten sich, versuchten einander Kraft zu spenden, waren liebevoll zueinander, ja – stellten in dieser Ausnahmesituation des Krankseins, des Schwachseins, des Erinnert-Werdens an das Elementare wieder eine Liebe zueinander fest. Es war sehr schön, das zu sehen! Sehr, sehr würdevoll, sehr kraftvoll & eben friedlich auf eine Art…
Ich machte mich auf, um den “Raum der Stille” zu besuchen.
Ich mag ruhige Räume.
Von aussen durch eine gigantische, geschwungenen Metallplatte verziert, fand ich das Innere des Raums als relativ unüberraschend vor. Eine kleine Kapelle, wie sie in vielen Kliniken zu finden ist. Zweckmässiger Altar, etwa 25 Holzstühle davor, die Fenster von einem lokalen Künstler gestaltet.
Ich sah mich ein wenig um (ich war alleine in dem Raum) & liess ihn auf mich wirken. Er war tatsächlich das, was er versprach: es war sehr still dort!
Ich setzte mich & klappte dort ausliegende Besucherbücher auf.
Diese waren voll mit Einträgen unterschiedlicher Art. Viele dankten Gott oder baten ihn um seine Hilfe.
Einige sprachen von Leid oder Verlust. Einige von (ihren Glaubens-) Zweifeln. Unterschiedlichste Menschen & deren unterschiedlichste Anliegen. Individuelle Handschriften, Anliegen, Sorgen, Dankbarkeiten – alle geschrieben in diesem Raum.
Ich blättere weiter & auf ein Mal wird es noch viel stiller: ein Jemand hatte sich tatsächlich in seiner unfassbaren Gehässigkeit dazu hinreissen lassen, unter einen Eintrag einer Mutter, welche Gott darum bat, daß ihr Baby gesund auf die Welt kommen möge in grossen Lettern “Heil Hitler” zu krakeln! Paff, ein dumpfer Schlag in die Magengrube!

Stille. Stille. Stille!
Eine andere Handschrift schrieb dann “warum? warum? warum?” darüber & drumherum. Doch der Schlag war schon platziert. Unglaublich, zu welcher verletzenden Unmenschlichkeit manche Menschen fähig sind…
Klar, an einem Ort wie diesem wird u.a. ein krasser Einblick in die Diversität der Gesellschaft geboten. Das sind dann eben auch teilweise schlimme, schmerzende Einblicke… So ein Arschloch!
Ich hatte in jedem Fall keine Lust, mir durch diesen einen Eintrag die eben auch schöne Erfahrung, welche ich in dem Raum hatte, nehmen zu lassen. Wenns mir auch nicht ganz gelang. Ich bin übrigens nicht gottesgläubig btw…
Ich verließ den Raum & wartete weiter auf meine Begleitung. Mittlerweile fand in dem riesigen Foyer eine Bauchtanzveranstaltung statt.
Ich nahm ein zweites Mal in der Cafeteria platz & beobachtete weiter, wie zuvor, die Szenerie mit nun ausgewechselter Besetzung. Die Eindrücke waren die selben wie zuvor.
Gut!
Kurze Zeit später kam mein Herzblatt zurück. Berichtete von ihrem Besuch. & ich von meinen Erlebnissen & Beobachtungen.
Letztendlich habe ich die Omama gar nicht gesehen, es wurden aber herzliche Genesungswünsche bestellt.
Power to you!
& ich konnte, feststellen, dass – abgesehen von dem Austausch mit meiner Lieben – die Worte “einen Kaffee, bitte!”, “ist der Nudelsalat vegetarisch?” & “noch eine Brezel dazu!” die einzigen waren, welche ich in an diesem Nachmittag in dem Klinikum verloren hatte.
Ansonsten hatte ich wortlos die Ruhe betrachtet.
& das war beeindruckend schön!
Seid lieb zueinander, verzeiht euch, tröstet euch, schenkt euch Kraft!
(& seid einfach auch mal für eine Weile still…)