Aus den Memoiren eines Testbild
Von Patrice Lipeb
Das Corona-Virus sei nun mal kein sächsisches Problem, sondern wir wissen ja alle, dass die Flöschtlinge mit ihrön eingeschleppten Gehörnparasiten tran schuld sein müssen, dass wir hier alle jämmerlich zugrunde gehen sollen. Das wird ja immer nur alles von der BRD-GmbH absöschtlisch verschleiert, versichert mir unsere Putzfrau am Telefon. Ich johle vor Lachen über die spontane, parodistische Einlage sächsischer Mittelstandssmystik, in die gesplitterte Retina-Mattscheibe meines in die Jahre gekommenen Trikorders.
Also is nu widor dö Mörgel tran schuld, antworte ich verschwörerisch, mit dem mehr oder weniger besten Sächsisch, das einem mittelhessischen Kulturflüchtling zur Verfügung steht. Na, das Meiste ist hier ohnehin Paralympics, resümiert der kugelrunde Bademeister vom Kinderplanschbecken versonnen in die Runde halb nacktem Nachwuchses – damals im westdeutschen Hallenbad. Am Ende alles Ausschuss versteht ihr? Der mutmaßlich pädophile Badeyogi trug immer so was wie ‘ne weiße Mütze mit unbestimmten maritimen Rang und sieht in meiner Erinnerung in etwa so aus wie Kapitän Iglu auf Landgang. Vielleicht habe ich ihn auch nur zum Spaß erfunden. Viel ändert das nicht.
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Unsere Raumpflegerin Marius – ich nenne ihn ohne triftigen Grund gern die Dame mit Bart – lädt mich indessen feixend ein, zu ihm in den Laden zu kommen. Er sei von zwölf bis fünf Uhr vor Ort und wir könnten die Zeit seiner Meinung nach gut nutzen, um wenigstens ein paar Bier zu trinken. Ich erkläre ihm, dass mir seine Einladung tatsächlich sehr nahe gehe, ich aber tippen müsse. Trotzdem hätte ich in der Ecke zu tun und deshalb würde ich ihn, aller Voraussicht nach, kurz allein besuchen kommen. Ich solle gefälligst den Hund mitbringen, befiehlt mir eine mit einem Mal ernsthaft besorgte Stimme am anderen Ende der Leitung.
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Die letzten Wochen waren eher schlimm. Das Ausmaß meiner Winterdepression, nahm in diesem Jahr geradezu monströse Formen an. In nicht wenigen Momenten hatte ich nicht übel Lust bekommen, mir ein bisschen die Augen zuzunähen oder mir zumindest halbseitig die Haare abzuschneiden. Interessanterweise dient mir – gefangen im stinkigsten Loch meiner Depression – die Länge meiner Gesichts- plus Restkörperbehaarung als Gradmesser für den erlebten Leidensdruck depressiver Provenienz. Auch meine Breitschaft, mich zu den Grundpfeilern der Körperpflege zu bekennen (Zähneputzen, Popo waschen) verhält sich ähnlich proportional zum Grad meiner geistigen Gesundheit. Deren gewissenhafte Pflege meiner Kenntnis nach kein Akt des Willens ist. Trotzdem hatte ich dem entgegen dieser Tage Lust gezeigt, nicht länger wie ein Yeti drein zu schauen. Auch wenn ich mich kaum selbst dazu in der Lage sah, der zentimeterdicken Matte Kraushaar Einhalt zu gebieten, die seit Wochen mein Gesicht bedeckte, hielt ich es nach tagelanger Planung doch immerhin für möglich, einen Friseur aufzusuchen und nichts weniger als einen Fachmann damit zu beauftragen, meinem Äußeren wieder annähernd menschliche Züge zu verleihen.
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Dabei hatte ich mir auch sonst soviel vorgenommen. Aber genau das kennzeichnet ja so eine Depression: Ein Unvermögen – zumindest für mich. Ein vollständiges und bewusstes Unvermögen, aktiv positive Handlungen zu vollziehen, bei gleichzeitig vollem Bewusstsein über den im Ergebnis autoevozierten und schlußendlich gegen sich selbst gelebten sozialkommunikativen Missstand sowie einer daraus folgenden, immer mehr unmöglichen Fähigkeit zur aktiven Selbstheilung. Ein nicht selten bewusst erlebter Umstand, der sich naturgemäß gerade deshalb in der Sache selbst verschlimmern muss.
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Vereinfacht gesagt, verdammen mich Depressionen zur völligen Apathie. Außer niederschmetternder Lethargie und stetig wachsendem Groll gegen mich und allenthalben beliebige Verkörperungen meiner Ängste, aus dem Œuvre meines Freundeskreises, bleibt da nicht viel – Schuldgefühle jetzt mal außen vor! Nur ein kleiner Klumpen Hass, zusammengerollt auf einer Couch in einem eiskalten dunklen Raum. Frühjahrsmüdigkeit eben und vielleicht kommt hin und wieder auch ein bisschen Schwermut dazu.
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Der einzige Aktionismus, zu dem ich mich am Höhepunkt meiner Depression in steter Regelmäßigkeit hinreißen lasse, sind wohl dosierte Einlassungen von Autoaggression wie: Saufen, Zeitung lesen, Shopping, Verwandtenbesuche, Ritzen, na ihr wisst schon Bescheid. Ansonsten bekomme ich in diesen Phasen einfach gar nichts hin. Nicht einmal, mich wenigstens halbwegs anständig zu rasieren.
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Ob ein Pflegeroboter wohl in der Lage sein wird, mir auch die Haare schön zu machen? Die Frisur – gern mit gewagten Farben schrill in Szene gesetzt – ist doch so wichtig für ein positives Körperbild im hohen Alter. Wie eine von Engpässen befreite Lieferkette Tramadol, Diazepam, Valium, Abführmittel, Kodein-Forte, Aspirin, Haloperidol und viel frischer Luft natürlich. Wenn ich mir so ausmale, wie ich adipös, senil und schlecht gelaunt, in Kittelschürze und mit rosa Haaren so ans Bett gefesselt vor mich hin vegetiere, kann ich das Bild als Ganzes nur komisch finden. Endlich näher am Ergebnis – weiß der Fachmann dazu zu sagen! Ich stelle mir vor, wie sich der Rücken, meiner in Strapsen und Häubchen bekleideten Roboschwester mit einem mechanischen Surren stoischer Geschäftigkeit gemächlich öffnet. Ein Gewirr von Schläuchen und Greifarmen entsteigt meiner chromglänzenden Pflegebeauftragten. Mechanisch und steril appliziert sie ohne das geringste Anzeichen von Ekel einen frischen Katheterbeutel. Mit einer anderen Hand schabt Robogirl gründlich die Beläge von meiner Zunge und verpasst mir simultan die morgendliche Spülung. Zu guter Letzt entsteigt ihrem Gesäß anmutig eine elektrische Haube, mit der sie sogleich mein mit rosa Flaum bewuchertes Haupt luftdicht umschließt und trocken föhnt.
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Mich erwarten goldene Zeiten, in denen ich endlich einmal im Mittelpunkt stehen werde, denke ich bei mir. Gleichzeitig stelle ich mir die bange Frage, ob ich mir, wenn die Zeit gekommen ist, überhaupt einen hübschen Pflegeroboter werde leisten können? In ein paar Jahren wird ja aller Voraussicht nach immerhin noch Kapitalismus sein. Ob ich im hohen Alter wenigstens noch in der Lage sein werde, mir im Dark Net eine kleine Happy Ending Modifikationen zu organisieren? Die mir aller Voraussicht nach, inmitten der zahlreich trostlosen Anwendung manueller Natur, welche die pflegende Robotöse zukünftig an mir zu bewerkstelligen hat, eine willkommene Abwechslung zum gänzlich lieblosen, dafür aber medizinisch sinnvollen Robogegrabbel bereiten wird? Oder wird diese Anwendung lediglich gegen Aufpreis, dafür aber direkt vom Hersteller zu erhalten sein? Werden sich am Ende gar die Krankenkassen der entstehenden Mehrkosten annehmen? Und noch viel wichtiger: werde ich den herbei geschriebenen Robohandjob noch als romantisch befriedigende Hinwendung in Richtung meiner Person erfahren können? Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so recht, was ich mir an dieser Stelle wünschen soll. Stadtessen überlege ich mir eine hübsche Farbe für das Mini-Kleid meines zukünftigen Pflegeroboters, die meine gesetzte Einstellung im hohen Alter angemessen reflektieren soll.
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All das und wenig mehr geht mir durch den Kopf, als ich mich anziehe und das Haus gegen Mittag in Richtung Barbier verlasse. Klar, fahre ich mit dem Rad, denn in einem gesunden Körper wohnt bekanntlich ein gesunder Geist.
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Draußen regnet es. Jetzt bloß nicht darüber freuen! Das beschissene Wetter hilft nicht mal dem Planeten – nicht den Bäumen, nicht den Bauern, nicht den Feldern. Im Sommer vertrocknen wir halt einfach weiter, so steht es zumindest in der Zeitung geschrieben, aber das nur am Rande.
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Mangels adäquater Kleidung, einigermaßen patschnass beim Friseur angekommen, bin ich wohl oder übel sofort an der Reihe. Etwa eine halbe Stunde später erzählt mir der Barbier während er schneidet und kämmt, stolz von seinem 15-jährigen Sohn, der schon regelmäßig hier im Laden mithilft. Nach der Schule, damit er auch was Richtiges lernt, verstehst Du? Ich verstehe und entscheide mich mehr oder weniger beiläufig für eine Wachsbehandlung meiner Nasen- und Ohrenhaare. Während ich mich auf Nachdruck zurücklehne und vorsätzlich mit überstreckten Nacken Entspannung suche, erreicht den Barbier, nach Skandierung eines zackigen arabischen Imperativs, ein messingbeschlagenes Gefäß. Es mutet stark orientalisch an, im Stile folkloristischen Nippes und wirkt auf mich im dem sterilen und doch auffällig billig eingerichtet Ladenlokal einigermaßen exotisch. Es würde mich, um ehrlich zu sein, nicht wurden, wenn ich aus dem Gefäß spontan einen ordentlichen Mokka serviert bekommen würde. Womit sich mein von rassistischen Vorurteilen bevölkertes Weltbild ein weiteres Mal einwandfrei Geltung verschafft hätte. Aber was juckt mich denn schon noch? Und wie um mich vor etwaig nihilistischen Erörterungen zu bewahren, macht sich der Barbier auch schon daran, mir vorsichtig die Nasen und Ohrlöcher mit heißem Wachs einzupinseln. Das geht hier mit übergroßen Wattestäbchen vonstatten, die garantiert nicht aus recyceltem Altpapier bestehen. So stelle ich zumindest beiläufig fest, während ich mein Spiegelbild mustere und erstaunt einen frisch lobotomierten Teletubby mit astreiner Friese entgegenblicke, der sich scheinbar aus lauter Langeweile ein paar gruselige Antennenpopel formschön ins Gesicht geschoben hat.
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Während ich diesem Bild gedanklich noch etwas nachhänge, entfernt mein Barbier ohne weitere Vorwarnung den ersten Stab aus meiner Nase. Ich bin erstaunt, ja geradezu überrascht, über das Missverhältnis von gerade erlebten und zuvor erwartetem Schmerz. Es fühlt sich allem Anschein nach recht angenehm an, alle garstigen Nasenhaare auf einmal – hübsch verflochten in einen unförmigen Klumpen Heißwachs – mit einem beherzten Ruck aus dem Gesicht gerissen zu bekommen. Während ich noch gedankenverloren vor dem Spiegel verharre, hält mir der Barbier stolz den entfernten Wachsklumpen vor dicht vors Gesicht. Hier Bruda, schau dir das an! Das ist alles von Dir, sagt mein Kavalier mehr stolz als anklagend. Einigermaßen angeekelt betrachte ich das, was für keine Augen jemals bestimmt war. Nicke mit einem Gesichtsausdruck, der sich meiner Kenntnis entzieht in irgendeine Richtung und versuche mich schließlich, ob des vorgebrachten Arbeitsnachweises nicht spontan in den Friseurtisch zu übergeben. Zum Glück ist das Wachs so schwarz wie meine Nasenhaare. Denke ich noch, bevor ich den zweiten Q-Tipp des formvollendeten Grauens, entsprungen aus der namenlosen Tiefe meines Körpers, vor seiner Entsorgung abnicken und begutachten muss. Mit den restlichen zwei Antennenpopeln, verfährt mein Barberboi jedoch weitaus gnädiger. Aus dem Augenwinkel scheine ich beobachten zu können, dass er die Ohrwachshaarpfropfen am Stil hinter meinem Rücken lässig auf den Fußboden in die Mitte des Ladens geschnippt hat.
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Ist manchmal auch ganz praktisch, nicht allzu viele Fremdsprachen zu beherrschen. Ich halte Konversation, die ich inhaltlich nicht verstehe, in den meisten Fällen für überwiegend geistreich und friedfertig, sofern nicht mal wieder irgendwelche Vorurteile gegen Rasse, Klasse und oder Geschlecht zuschnappen. Gerade jetzt bin ich ziemlich froh, keines der allseits im Laden gewechselten Worte zu verstehen und nur gelegentlich, irgendwie freundlich angegrinst zu werden. So, fertig Kollege, reißt mich die Stimme des Barbiers erneut aus meinen belanglosen Tagträumereien heraus. Kurze Zeit später und um knapp 40€ ärmer stolpere ich aus dem Laden. Ist verdammt kalt am Kopf um diese Jahreszeit – so ganz ohne Mütze.