Von Michael Schweßinger
Nach einigen Monaten Zeitz und mitten im Winterblues beobachte ich merkwürdige Verhaltensänderungen an mir. Ich teile die Ereignisse nun den Tagen zu und versuche auf sieben zu kommen. Dienstag ist beispielsweise Live-Musik-im-Pub-Tag und Freitag ist Zetti-Werksverkaufstag in der Unterstadt. Von 9-12 Uhr gibt es frisch ab Werk drei Bambina zum Preis für 2,50€. Bei 300 Bambina hat man da schon 17 Euro gespart.
Montag ist der Tag, an dem die Straße vor dem Haus bis zum Abend hin stetig autofreier wird, weil am Dienstag die Kehrmaschine kommt. Das ist sicherlich einer der ungewöhnlichsten Bräuche, der bei Nichtbeachtung 15 Euro kostet. Meine Hoffnung ist ja, dass das Verwarngeld irgendwann zum Säubern der Spielplätze reicht. Nun, die Stadt ist zwar pleite und die Hütten leer, aber die Straßen sind wenigstens sauber. Das nenne ich doch mal Decay mit Stil. Vermutlich sind woanders die Straßen auch sauber und irgendwo fährt nächtens eine Kehrmaschine unbeobachtet durch die Stadt, aber hier ist das ein richtiges Ereignis, würde fast sagen Event, was aber vielleicht auch daran liegen kann, dass der Begriff Event hier wegen der geringeren Eventdichte bei mir mittlerweile niederschwelligere Verwendung findet. Das Kehrmaschinen-Event folgt einem festen Zeitplan. Alle zwei Wochen verteilt ein Kleinlaster am Abend davor Parkverbotsschilder in der Straße. Dann fahren alle ihre Autos einige Straßen weiter und man hat für eine Nacht eine autofreie Straße. Das sieht sehr toll aus, weil die Bäume dadurch intensiver in den Raum treten und man bekommt ‘ne direkte Vorstellung, welchen Raum dieser Individualverkehr eigentlich einnimmt, also ich bekomme ‘ne Vorstellung, man neigt ja sonst hier eher dazu, Parkplätze als Wundermittel gegen die postindustrielle Misere zu betrachten.
Visionäre Vorschläge für die Gelder aus dem Strukturwandelfond? Na, wie wäre es mit einem Caravan-Stellplatz mit Blick auf die Moritzburg und daneben ‘nen Busparkplatz. Leere Geschäfte in der Innenstadt? Ich würde sagen, wir brauchen kostenlose Parkplätze auf allen historischen Plätzen, dann kommen die Geschäfte schon irgendwann, weil ein Parkplatz ist das großartige Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Discountern am Stadtrand und welcher Tourist mag schon Plätze, die nicht völlig zugeparkt sind. Wer sitzt nicht gern im Café mit Blick auf Abgasrohre. Mir fällt gerade keine historische Altstadt ein, die sich noch den Luxus leistet, ihr bauliches Erbe einfach zuzuparken.
Aber zurück zu den alltäglichen eventschaffenden Maßnahmen in der Jahreszeit namens Winter. Dienstag ist Kehrmaschinentag und für meinen Sohn nicht nur das Event, sondern ein richtiges Mega-Event. „Kehrmaschine gucken!“, krakeelt er, sobald das Geräusch der rotierenden Kehrbesen zu hören ist und so gucken wir, wie sich die Kehrmaschine durch die autobefreite Straße schiebt, bevor sich die Straße danach langsam wieder mit Autos füllt.
Ansonsten, sag ich mir ja immer, wenn du das Gefühl hast, dass nix passiert, passiert dennoch etwas, nur was anderes, was eben nicht passiert, wenn zu viel passiert.
Die Robinie vor dem Haus wirft ihr Schattengeäst auf die Hauswand gegenüber. Die Raffgardine mit Goldborde schwebt fast wie ein Baldachin über der blaslilanen Hortensie im gegenüberliegenden Fenster. Pessoa hätte daran seine melancholische Freude, ähnlich wie ein talentierter Lyriker sicherlich zu den tiefen poetischen Assoziationswelten der Kohlmeisen in der Blautanne hinter dem Haus mittels nature writing vordringen könnte. Die Kohlmeisen sind noch etwas Retro unterwegs und der alten Imagekampagne Sachsen-Anhalts verpflichtet, also beginnen ihr Tagwerk zur bürgerlichen Dämmerung, während das neue Image von Sachsen-Anhalt ja nun „Modern Denken!“ und nicht mehr „Land der Frühaufsteher!“ propagiert. Sie machen schon am frühen Morgen einen Heidenradau und schaffen es erfolgreich, dass ich mich mit ihnen beim Frühstück beschäftige und in der Volksausgabe von Brehms Tierleben nachschlage, was es mit den illustren Gesellen so auf sich hat. Wäre nur etwas anderes passiert und hätte mich davon abgehalten. Eine Meise wird nie mehr das unschuldige Geschöpf sein wie zuvor. Laut Brehm spaltet die Kohlmeise nämlich Schädeldecken anderer Vögel, giert nach dem Hirne als kulinarischen Leckerbissen, ist gnadenlos gegen schwächere Vögel und Kranke, feige gegen stärkere, also ein völlig asozialer Vogel. Sozusagen eigentlich auf der Short-List für den Vogel des Jahres in neoliberalen und protofaschistischen Zeiten. Man ist ja von Brehms psychologisierenden Anthrophomorphisierungskunst einiges gewohnt, aber diese Beschreibung über Kohlmeisen lässt mich dann doch instinktiv das Fenster der Loggia schließen.
Ich werde ja hin und wieder von Leipzigern gefragt, ob Zeitz gefährlich ist, weil man das irgendwo gelesen hat. Ich tat mich immer schwer mit Antworten auf diese typische Dritte-Welt-Touristen-Frage und mir fielen als Antwortoption und mögliche Gefahrenquellen nur die endlose Baustelle am Bahnhof ein oder die zahlreichen Verkehrsteilnehmer, die aus mannigfachen Gründen ihr Gefährt nur notdürftig unter Kontrolle haben. Aber ich bin da auch ein schlechter Berater, weil ich mir über hypothetische Gefahren keinen Kopf mache und solche Fragen immer maximal ambivalent beantworte. Kann sein. Kann auch nicht sein. Also im Endeffekt ist mir Gefahr scheißegal. Vielleicht hast du Pech. Kann sein. Dank der Brehm-Lektüre ist das nun anders.
„Ja, ist es! Verdammt nochmal, hast du ‘ne Ahnung, was im Grenzland zwischen Sachsen und Thüringen so abgeht!“, kann ich nun mit Eindeutigkeit ausrufen und Eindeutigkeit ist die Währung der Stunde. Schwarz oder Weiß. Safe Spaces oder Wildnis. Also, alles voller Sleeper und mordlustiger Gesellen gleich hinter dem Haus beginnt das Grauen. Zusammenrottungen. Schädelspalter. Kannste dir nicht vorstellen. Klar Autoaufkleber mit „Feinstaub statt Ökostrom. Fuck you Greta!“ gibt es auch und EK und Wehrmachtsaufnäher und „Ostdeutschland-Härter als der Rest“ läuft hin und wieder schon mal durch den Netto, aber das sind Randphänomene, die wahre Gefahr geht zahlenmässig von Kohlmeisen aus.
Du hast ja ‘ne Meise, also bei dir nisten doch Vögel im Kopf und nicht im Garten, wäre wohl die Antwort und man würde den Schwerpunkt auf die Gefahren legen, auf die man es abgesehen hat, also die gut ins Land versus Stadt-Schema passen.
Aber, du meine Güte, du kannst auch vom Traktor auf ‘nem Feldweg überfahren oder vom braven Bankangestellten erschossen werden. Okay, die Rentner, die ihr Gefährt manchmal nicht mehr so ganz im Griff haben, darauf könnte man wirklich ein bedeutendes Gefahrenszenario gründen oder wenn du zufällig am frühen Samstagmorgen in den Iden des Januars an der Filiale der Deutschen Bank vorbeigelaufen wärest, dann wäre da ein Sprengsatz am Geldautomaten explodiert, dann wäre es vielleicht gefährlich geworden. Aber wer weiß das schon, dass es da noch Leute gibt, die Bankautomaten wie in den 90ern knacken und wer will sich ständig mit Konjunktiven beschäftigen und wen interessieren Antworten, die nicht ins eigene Angstschema passen? Jegliche Angst erzeugt ihr eigenes System und ist in sich schlüssig, deshalb kann man ‘nen Verschwörungstheoretiker auch nicht widerlegen, genauso wenig wie man jemand mit der Sehnsucht nach maximaler Sicherheit die Unsicherheit nehmen kann. Das sind zwei Kreisläufe mit ähnlich erratischen Wirkungen, die sich selbst bestätigen. Ferrentari, die Bronx von Bukarest wurde mir als gefährlich wegen der Roma angepriesen oder die Vororte von Daressalam und das Hafenviertel von Algeciras wegen der vielen Nordafrikaner und Tanger waren sowieso ein Sammelbecken von Islamisten. Mir war das immer scheißegal, weil ich mir die Welt nicht von der Angst diktieren lasse. Dublin dagegen hielt kaum einer für gefährlich, aber just da kam mir ein Typ mit ‘ner Spritze in der Hand entgegen und in Bamberg hielt mir mal einer ‘ne Knarre an den Kopf, so dass ich einige Zeit nicht mehr durch die Gassen des Weltkulturerbes laufen konnte, ohne etwas Paranoia zu empfinden. Gedanken hab ich mir a priori nie darüber gemacht. Sind die Meisen also gefährlich, weil ich darüber gelesen habe? Bestimmt, wenn ich genug Brehm lese und die passende YouTube-Schleife dazu finde, können sie noch gefährlicher werden. Aus ner Meise kannste sicherlich irgendwann ‘nen Elefanten machen. Vielleicht stehen auch überall Elefanten und ich sehe nur Meisen, aber die dystopische Vorstellung, dass hier einfach alles in diesem Trott weiter vorsichhinstrukturwandelt, erzeugt mir weit größeres Grauen.