von Michael Schweßinger
Zeitz ist nun offiziell geil. Das ging schnell. War es doch gerade noch fast Geisterstadt (Deutschlandfunk) und Lost Place (SPIEGEL TV). Dank sei dem Sat.1-Frühstücksfernsehen und dem Promi-Container-Sternchen Theresia Fischer, die sich entsann, dass sie auch mal aus Zeitz kam und nun was gegen die Imageprobleme tun möchte. Gegen ihre oder die von Zeitz, fragte ich mich da doch insgeheim. Den fehlenden Instagram-Account für die Stadt und den passenden Hashtag #zeitzistgeil gab es gleich noch als Geschenk obendrauf. Unter dem grünlilanen Logo, das eher ein wenig an Geiz ist geil erinnert, sollen nun die »positiven Vibes« der Stadt zusammenlaufen. Meine Google-Recherche nach der neuen Zeitzer Geilheit führt dann zwar schnell zu »Omasex«, »Mädchen junge ficken Zeitz« oder »Analspülung preiswert« und anderen verstörenden Assoziationswelten, aber sie werden schon wissen, was sie da tun.
Respekt jedenfalls, nicht jede Stadt mit so einer Geschichte macht so billig für die Klatsch-Presse die Beine breit. Die Verzweiflung muss groß sein, sonst würde man diese Page-Three-Girl-Number wohl als das begreifen, was es ist. Eine große Peinlichkeit für jeden Einwohner, der noch halb bei Sinnen ist und man fragt sich, was kommt als Nächstes. Vielleicht will ja auch Astro-TV Zeitz noch eine goldene oder geisterhafte Zukunft voraussagen? Warum zum Teufel aber auch sollte das notwendig sein? Lebt es sich doch erstaunlich angenehm hier. Ich muss sagen, mein Netzempfang ist nicht der beste und so kann es auch daran liegen, dass ich vermehrt offline unterwegs bin, was dazu führt, dass ich selten auf Geister und Geilheit treffe, sondern auf Menschen, die hier wohnen und die geben mir immer noch die verlässlichste Visitenkarte für eine Stadt ab. Das ist es jetzt nicht immer die elegante Goldmonogramm-Geschäftskarte, die man da präsentiert bekommt. Als ich von dieser neuen Geilheit erfahre, sitze ich vor dem EDEKA-Markt beim Morgenkaffee und eine Frau prostet mir mit ihrem Gorbatschow zu. »Ist Zeitz geil?«, frage ich sie da mal gleich. »Aber Hallo, aber sowas von!« Ein alter Mann schiebt derweilen seine Frau im Rollstuhl Richtung Kaufhalle. Der Zulauf zum Erich-Kästner-Museumsbus auf dem Parkplatz davor hält sich in Grenzen. Auch ich habe irgendwie keine Lust in den Kisten nach kreativen Erkenntnissen zu forschen und unterhalte mich lieber mit einem Kriminalkommissar a.D., der noch zwei Stunden auf seine neue Brille zu warten hat, über Kriminalfälle und seine Karriere. »War nicht so spannend, wie es im Tatort immer aussieht. Eigentlich war das sogar recht langweilig, wenn ich es mir genau überlege«, schiebt er irgendwann nach ‘nem Schluck Kaffee hinterher. Das Leben ist eben in den seltensten Fällen einfach geil, aber wenn ich eins von Zeitz in den letzten Wochen gelernt habe, dann die Fähigkeit, sich für die Dinge mehr Zeit zu lassen und das erzeugt so eine spezielle Zeitzer Gemütlichkeit. Vielleicht ist das die Gemütlichkeit, die einsetzt, wenn die großen Illusionen ausgeträumt sind, aber es ist eine schöne Gemütlichkeit, die mir sehr oft hier begegnet. Gemütlichkeit ist auf der anderen Seite der Erregtheitsskala angesiedelt. Es ist nicht diese mir vertraute typische fränkische Kneipengemütlichkeit, dafür fehlt es hier schlicht und einfach an den Kneipen. Gemütlichkeit ist eins der wichtigsten Wörter in Franken. Eine Kneipe, die nicht die Kraft hat, dich fünf Halbe lang zu halten, ist nicht gemütlich und dieses gemütlich ist kein Einrichtungsgegenstand, sondern eine Stimmung. Die Herrnhuter verwendeten den Ausdruck Anfang des 18. Jahrhunderts in ihren Schriften im Sinne von Herzlichkeit, ich glaube, es kommt diesen Zeitzer Grundgefühl ziemlich nahe. Mir fallen da ganz viele Situationen ein. Da wäre der Busfahrer auf dem Weg nach Meuselwitz, der so viel Zeit hatte, mit mir zu rätseln, wie ich am besten zur Abendstunde noch an den Michaelisfriedhof kommen könnte, bis er sich entsann, dass er ja da vorbeifährt und mich deshalb einfach mitnehmen könnte oder die Apothekerin, die mir nach einem Hangover ausführlich erklärte, wie man Paracetamol zu sich nimmt. »Sie haben Erfahrung damit?« »Mit Hangovern? Ja, klar!« »Nein, mit Paracetamol!« »Nicht übertreiben und auf die Leber achten!« Das ist schön charmant in seiner Doppeldeutigkeit. In Zeitz gibt es eine große Sehnsucht nach Kommunikation, die zunächst irritiert, wenn man es gewohnt ist, dass Verkaufsvorgänge oder Busfahrten heute normalerweise maximal nonverbal vor sich gehen, bzw. ich mich schon seit Jahren nicht mehr traue, die Busfahrer der LVB anzusprechen, obwohl sie ja immer wieder zu Service-Champions gekürt werden. Vermutlich von Menschen, die noch niemals das Vergnügen hatten, mit dieser Spezies Konversation betreiben zu müssen. In Zeitz ist immer Zeit für Gequatsche. Das ist jetzt keins der endemischen Wortspiele, sondern meine Erfahrung. Ich denke an den Herrn, der sich an der Fleischtheke vordrängelte, nicht weil er von geiler Fleischeslust ergriffen, sondern von der brennenden Frage malträtiert wurde, warum da Kirschen auf der Leberwurst sind und das hat dann Diskussionen zufolge, ob Kirschen denn nun gut zu Hirschpastete passen und Diskussionen verbinden Menschen. Am Ende wurde nix gekauft und viel geredet und sich einen guten Tag gewünscht. Degrowth-Konzept würde man wo anders dazu sagen. Über Essen reden und dann doch verzichten. Manchmal sitze ich im Boulevard-Café am Platz der Deutschen Einheit in Zeitz-Ost, weil da die Kita von meinem Sohn ist und auch der Wochenmarkt. »Montessori-Kita! Beziehungen oder was?«, fragte mich ein Bekannter aus Leipzig mit großen Augen. »Nee, war nur noch die Montessori frei, Völkerfreundschaft hat Warteliste«. Die Augen wurden noch größer. Mir ist das ja recht gleich. Ich hab‘ auf diese Labels nie was gegeben. Du merkst ja, ob was gut ist oder schlecht durch die Menschen, nicht durch die Labels, sag ich mir immer. Nun Zeitz-Ost, da muss man vermutlich lange gewohnt haben, um es schön zu finden, Platte eben und das Boulevard-Café am Platz der Deutschen Einheit doch auch recht euphemistisch benannt, weil da nur ein Parkplatz davor und die Sparkassenfiliale daneben und wer diesen Platz benannt hat, muss ja keinen großen Respekt vor der Einheit gehabt haben, dachte ich, als mein Blick auf die Verkaufshalle mit China-Schrott a la Tschechenmarkt in den 90ern fiel und die Imbissbude, wo dich jeder nach dem ersten Satz gleich als Fremden identifizierte. »Einmal Kaffee, bitte!« »Wie Kaffee? Schwarz oder komplett?« Komplett sagte ich, unwissend, dass komplett mächtig Zucker und Kaffeeweißer bedeutet. An diesem Stehtisch vor seinem für 80 Cent erworbenen Kaffee komplett mit Blick auf den Platz der Deutschen Einheit. Du meine Güte, das ist ‘ne Mischung aus Josef Hader in einem Brenner-Roman und einem Andreas Dresen-Film. Das ist Leben im fortgeschrittenen Stadium, da sind schon mächtig Kratzer dran und auf die Quote von Rollator zu Kinderwagen will ich da gar nicht näher eingehen. Bukowski liest sich zum Beispiel ziemlich gut in Zeitz. Der Dirty Old Man wusste, dass er nicht geil war und diese Akzeptanz, dass die Dinge so sind, wie sie sind, dass dich kein Frühstücksfernsehen oder irgendeine andere messianische Heilsgestalt von außen wird retten können, zog er seine Power und seine Wahrhaftigkeit.